3. Diagnostische Maßnahmen zur Bestimmung der neuro-muskulo-tendinösen Eigenschaften
Um im Rahmen der Leistungsdiagnostik die neuro-muskulo-tendinösen Eigenschaften eines Athleten festzustellen, werden unterschiedliche Verfahren angewandt.
Messungen zur Bestimmung von physiologischen Eigenschaften
Um Muskelaktivität zu messen wird in der Bewegungswissenschaft meist die Methode der Elektromyographie (EMG) angewandt. Dabei werden Elektroden auf der Haut nahe des zu testenden Muskels angebracht und in den Muskelfasern auftretende elektrische Potentiale mithilfe von Verstärkersystemen aufgezeichnet. Die EMG Messung liefert Informationen über die Dauer, den Anstieg und die Höhe der Muskelaktivierung. Auf diese Weise können Rückschlüsse über die zeitliche Aktivität einzelner Muskeln, Ermüdungserscheinungen und intramuskuläre Koordination mehrerer Muskeln gezogen werden \cite{elektromyographie}. Diese Methode ist nicht-invasiv, solange man die Elektroden nur auf der Hautoberfläche oberhalb des Muskelbauches anbringt und nicht direkt in das Muskelgewebe eindringt, wie das bei der Nadelmyographie der Fall ist. Letztere Methode wird hauptsächlich für klinische Untersuchungen angewandt, da sie die Messung von Aktionspotentialen einzelner Muskelfasern ermöglicht, und kommt auf Grund des Aufwands nicht als diagnostische Maßnahme im Leistungssport infrage.
Weitere Parameter, wie zum Beispiel der physiologische Querschnitt von Muskeln und Sehnen, lassen sich mittels Ultraschalluntersuchung (Sonographie) aufzeichnen. Dabei wird ein Schallkopf auf die Haut oberhalb der zu untersuchenden Struktur gesetzt, welcher Ultraschallwellen aussendet. Diese dringen in das Gewebe ein, wo sie sich abhängig von den vorliegenden Strukturen auf unterschiedliche Art fortbewegen können. Die ausgesendeten Ultraschallwellen werden reflektiert, von einem Sensor aufgenommen und mittels Computer zu einem Bild zusammengesetzt. Ultraschallwellen können feste Strukturen, wie z.B. Knochen, nicht durchdringen, eignen sich aber sehr gut um weiche Strukturen, wie z.B. Muskeln und Sehnen, darzustellen \cite{degum}. Da wissenschaftliche Studien einen Zusammenhang zwischen Muskel- bzw. Sehnenquerschnitt und sportmotorischer Leistung belegen, ist die Ultraschalluntersuchung als einfache, nicht-invasive Methode für diagnostische Maßnahmen im Leistungssport geeignet. Dabei ermöglicht die Technik mittlerweile auch die Durchführung von sogenannten real-time Messungen, also die Aufnahme einer ganzen Bildserie in Echtzeit. So können Ultraschallmessgeräte beispielsweise oberhalb eines Muskel fixiert werden, um die Längenveränderungen der Muskel-Sehnen-Einheit bei Aktivität aufzuzeichnen \cite{Konrad2014}.
Funktionale Tests
Zur Bestimmung der Maximalkraft der Beinstreckmuskulatur des Athleten eignen sich 1-Repetition-Maximum-Tests (1-RM) im Squat-Reck. Unter dem 1-RM versteht man „die Last, welche einmal zur Hochstrecke gebracht werden kann“ (Granacher et al., 2009). Dieses Kraft-Maximum wird dabei nach den „ACSM Guidelines“ \citep{Thompson_2013} ermittelt. Das 1-RM sollte innerhalb von 4 Versuchen mit einer Pause von 3-5min zwischen den Versuchen bestimmt werden.
Isokinetische Muskelfunktionstests der unteren Extremitäten erlauben die Evaluation von Kraft-Längen-Relationen und Kraft-Geschwindigkeits-Verhältnissen, die bei Athleten bekanntlich individuell ausgeprägt sein können. Dazu bietet sich die Testung der Beinstreckung und Beinbeugung, sowie die Plantarflexion am Isokineten an. Hierbei wird eine geringe Bewegungsgeschwindigkeit/ Winkelgeschwindigkeit über den hydraulisch gesteuerten Dynamometer eingestellt, welcher gewährleistet, dass alle Athleten unter gleicher Last an ihre maximale Leistungsgrenze gehen. Vor Start der Testung wird die individuelle anatomische Normal-Nullstellung des einzelnen Athleten ermittelt und daraufhin ein vorgegebener Bewegungsradius von 90° eingestellt.
Die Maximum voluntary contraction (MVC) der zu untersuchenden Muskulatur kann mithilfe eines Dynamometers festgestellt werden. Dafür absolviert der Athlet eine isometrische Kontraktion der zu untersuchenden Muskulatur, während gleichzeitig eine EMG Messung durchgeführt wird, um die Höhe der MVC zu bestimmen. Der Bewegungsradius eines Gelenks, engl. Range of Motion (RoM), wird mithilfe von elektronischen Goniometern bestimmt. Dabei wird das Messgerät auf den beiden, an das Gelenk angrenzenden Segmenten befestigt. Jegliche Veränderung des zuvor definierten neutralen Winkels erzeugt einen Spannungsunterschied und wird vom Messgerät aufgezeichnet. Auf diese Weise kann beispielsweise der maximale Winkel eines Gelenkes gemessen werden. Konrad und Tilp \cite{Konrad2014} nutzten diese Messmethode, um den Effekt von statischen Stretching-Übungen auf die funktionalen Eigenschaften der für die Plantarflexion verantwortlichen Muskel-Sehnen-Einheit zu untersuchen.
Auswahl diagnostischer Maßnahmen für Athleten der Disziplin 100m Sprint
Um eine umfangreiche Analyse der Muskel-Sehnen-Einheiten unserer Athleten durchzuführen, wäre eine Kombination der verschiedenen oben aufgeführten Methoden sinnvoll. Diese könnte im Rahmen eines Leistungsdiagnostik-Camps durchgeführt werden und ich festgelegten zeitlichen Abständen wiederholt werden, um eventuelle Fortschritte dokumentieren zu können.
4. Begründung der ausgewählten Diagnoseprotokolle und Maßnahmenentwicklung für ein gerätegestütztes Krafttraining
Um einen ganzheitlichen Plan für das gerätegestützte Training zu entwerfen, sollten im Rahmen der Leistungsdiagnostik zunächst isokinetische Messungen der Oberschenkel- und Unterschenkelmuskulatur durchgeführt werden. Zur Oberschenkelmuskulatur gehört die ischiocrurale Muskulatur (darunter zählen M. biceps femoris, M. semitendinosus, M. semimembranosus) und der M. quadriceps femoris (M. rectus femoris, M. vastus intermedius, M. vastus lateralis und M. vastus medialis). Die Unterschenkelmuskulatur setzt sich aus den Plantarflexoren (M. triceps surae: M. gastrocnemius und M. soleus) sowie dem M. tibialis anterior zusammen. Aufbauend auf den Ergebnissen der isokinetischen Messungen im Rahmen der Leistungsdiagnostik (siehe Aufgabe 3), sollten konkrete Ziele für das Krafttraining erstellt werden. Um die jeweiligen Muskelgruppen isoliert zu trainieren, bietet sich, falls am Trainingsort vorhanden, das Training am Isokineten an. Dieses Training ist sowohl statisch als auch dynamisch, mit verschiedenen Winkelgeschwindigkeiten, durchführbar. Ansonsten lassen sich die benannten Muskelgruppen jedoch auch an üblichen Kraftgeräten trainieren:
- Leg Curl für die ischiocrurale Muskulatur
- Leg Extension für den M. quadriceps femoris
- Calf raise für die Plantarflexoren
- für den M. tibialis anterior eignet sich am besten eine Übung mit dem Deuserband
Neben den oben aufgelisteten Übungen für das isolierte Krafttraining eignen sich Kniebeugen im Squat Reck als komplexe Übungen der gesamten Beinstrecker. Im Squat Reck können auch verschiedene Varianten der Kniebeuge durchgeführt werden, wie zum Beispiel tiefe oder einbeinige Kniebeugen.
Um spezifische mechanische Anpassungen der Sehnen zu erzielen, muss mit hohen Lasten (>90% des 1-RM) gearbeitet werden, da niedrige Lasten keine mechanischen Anpassungen bewirken. Durch das gerätegestützte Krafttraining wird die Effektivität von Sprüngen vernachlässigt, welche für Sprinter allerdings eine essentielle Übungsform darstellen um die Reaktivkraft zu trainieren.
Um Fortschritte im Krafttraining zu dokumentieren, sollten wiederholte Messung am Isokineten durchgeführt werden. Zudem können Veränderungen der strukturellen Eigenschaften der MTU mit Hilfe von EMG und Ultraschall überprüft werden (siehe Aufgabe 3).
5. Abschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten der Athleten hinsichtlich der Anpassung biologischer Strukturen
Ziel der entwickelten Trainingsintervention mit Fokus auf gerätegestütztem Krafttrainings ist es, die Muskel-Sehen-Einheit der Athleten bestmöglich für die sportmotorische Leistung des 100m-Sprints vorzubereiten. Dies bedeutet, dass die ausgewählten Trainingsinhalte mit ihrer hohen Last (>90% des 1-RM) auf muskulärer und auf tendinöser Ebene die Anforderungen des Sprints bestmöglich optimieren.
- Muskuläre Ebene: Die hohen Lasten tragen Sorge, dass die Muskelgruppen der unteren Extremitäten in ihrer neuronalen Innervierbarkeit verbessert und die Muskelkraft gesteigert werden \cite{Schoenfeld_2015}.
- Tendinöse Ebene: Um eine Hypertrophie der Sehnen und eine erhöhte Steifigkeit zu erzielen, sind hohe mechanische Kräfte von Nöten, welche im vorgestellten Trainingskonzept enthalten sind \cite{Sommer_1989}. Eine steifere und hypertrophierte Sehne verbessert die Eigenschaften, welche für die sportmotorische Leistungsfähigkeit des Sprintens erforderlich sind. So ist eine steifere Sehne, in der Einheit mit dem Muskel, besser in der Lage die Kräfte des Muskels zu übertragen, sowie diese in einem höheren Maße zu speichern \cite{Stafilidis_2007}. Diese Kraft kann damit effizienter im Vortrieb genutzt werden.
Insgesamt möchten wir dafür sorgen, dass die Athleten in ihren Muskel-Sehnen-Einheiten gestärkt werden um einen besseren Vortrieb im Sprint generieren zu können. Aus Studien geht hervor, dass der Unterschied zwischen guten und sehr guten Sprintern viel eher in der Eigenschaft der Sehnen als in der Eigenschaft der Muskulatur liegt \cite{Stafilidis_2007}. Daher liegt der Fokus unseres Konzeptpapiers auf der Verbesserung eben dieses Parameters, um eine bestmögliche Entwicklung der Athleten in der Disziplin 100m Sprint zu fördern.
6. Risikoabschätzung: Inwieweit kann das konzipierte Diagnostikum bzw. Trainingskonzept den bestehenden Trainingsablauf beeinflussen?
Das vorliegende Trainingskonzept legt den Schwerpunkt auf gerätegestütztes Krafttraining, um eine optimale Anpassung der Muskel-Sehnen-Einheit für die Disziplin 100m Sprint zu gewährleisten. Da Krafttraining bei Sprintern auf Eliteniveau bereits ein wichtiger Teil des Trainingsplans sein sollte, ändert sich im langfristigen Trainingsablauf nicht viel. Einzelne Übungen werden basierend auf den Ergebnissen der Leistungsdiagnostik ausgetauscht, bzw. an die vorhandenen Geräte und Leistungen angepasst.
Allerdings absolvieren Sprintathleten in der Regel kaum gerätegestütztes Krafttraining, sondern führen eher Freihantel- und Sprungkrafttraining durch. Somit kommt es zwangsläufig zu einer Umstellung des Krafttrainingsplans, was auch bedeutet, dass Übungen neu erlernt werden müssen. Da es sich bei den neuen Übungen um gerätegestütztes Training handelt, sollte es für Elitesportler kein Problem darstellen die neuen Bewegungsabläufe nach einer gewissen Gewöhnungsphase fehlerfrei zu absolvieren. Das vorherige Krafttraining sollte dabei allerdings nicht vernachlässigt werden. Dies bedeutet, dass die Einheiten des bisherigen Trainingsablauf des Krafttrainings gleich bleiben, jedoch der Trainingsplan variiert wird.
Maximalkrafttraining bewirkt eine Vergrößerung des Muskelquerschnitts, da durch physiologische Anpassungsprozesse mehr Sarkomere parallel geschaltet werden. Dies führt zu einer höheren Steifigkeit der Sehne und ermöglicht eine höhere Kraftgenerierung bei niedriger Geschwindigkeit. Dies ist beispielsweise beim Start zu erkennen, bei dem die Kraftanstiegsrate im Startblock und damit die resultierende Kraft größer wird.
Um gleichzeitig mehr Kraft bei hoher Geschwindigkeit zu erzielen, was physiologische Anpassungsprozesse mit einer vermehrten Reihenschaltung von Sarkomeren voraussetzt, muss ein zusätzliches Sprungkrafttraining absolviert werden. Übungen dafür stellen unter anderem die Vertikalsprünge wie zum Beispiel der Dropjump oder der Counter Movement Jump dar, bei denen der Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus sowie die Preaktivierung der MTU eine wichtige Rolle spielen. Dies ist auf die Stützphase beim Sprint abzuleiten.
Des Weiteren sollte die Trainingsplanung auch die Termine für die verschiedenen Messungen, welche im Rahmen der Leistungsdiagnostik durchgeführt werden sollen, berücksichtigen.